Offener Brief von Martin Germer 17.10.2019
17.10.2019, Pfarrer Martin Germer (Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirchengemeinde)
Sehr geehrte Damen und Herren von der KNA-Zentralredaktion,
sehr geehrter Herr Brüggenjürgen als Chefredakteur Domradio,
sehr geehrte Frau Dierkes, als Vorsitzende des Bildungswerks und Träger des Domradio,
mit Erschrecken habe ich heute in der Domradio-Internetpräsenz die unten wiedergegebene, schlecht recherchierte und grob wahrheitswidrige Passage innerhalb des Beitrags Ihres Mitarbeiters Christoph Schmidt „Wie gefährlich sind die Muslimbrüder?“ gelesen. Hier wird die „Neuköllner Begegnungsstätte e.V.“ (NBS) aus Berlin massiv als Flaggschiff des legalistischen Islamismus hingestellt.
Als Pfarrer der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche kenne ich die „Neuköllner Begegnungsstätte e.V.“ (NBS) und die dort Verantwortlichen seit mehreren Jahren, habe mehrfach mit ihnen in großer wechselseitiger Offenheit kooperiert und kann uneingeschränkt bezeugen, dass von ihrem Imam und den anderen Mitgliedern des Vorstandes des Moscheevereins alles andere als islamistische Positionen vertreten werden. Im Gegenteil ist man in dieser von vielen Muslimen, vor allem arabischer und palästinensischer Herkunft, besuchten Moschee sehr darum bemüht, für eine Öffnung zur hiesigen Gesellschaft und für ein friedliches Miteinander im Geiste der Toleranz zu werben und dies im eigenen Verhalten vorzuleben. So hat man dort bereits Rabbiner zu öffentlichen Veranstaltungen eingeladen, christliche Repräsentant*innen und Vertreter*ìnnen anderer gesellschaftlicher Gruppen sowieso, aber auch z.B. offen homosexuell lebende Menschen. Frauen haben bei Veranstaltungen in dieser Moschee oft leitende Aufgaben, Frauen ohne Kopftuch können sich dort frei bewegen u.a.m. Der Moscheeverein hat auch schon mehrfach zu Veranstaltungen mit der Landeszentrale für politische Bildung eingeladen, um für ein demokratisches Engagement in unserer Gesellschaft zu werben. Dies alles könnte Ihnen sowohl von Expert*innen des interreligiösen Dialogs in Berlin, evangelisch wie katholisch bestätigt werden als auch von der örtlichen Polizei sowie von Islamwissenschaftler*innen wie z.B. Prof. Dr. Riem Spielhaus aus Göttingen, die 2018 zusammen mit anderen ein Standardwerk über das differenzierte Islamische Gemeindeleben in Berlin veröffentlicht hat.
Der Vorwurf, ein „DMG-nahes Flaggschiff“ zu sein, ist in Anbetracht der tatsächlichen Praxis der NBS völlig absurd. Er wird dem Bericht zufolge erhoben von einer Frankfurter Autorin, die ganz gewiss noch nie den Versuch gemacht hat, sich mit der tatsächlichen Arbeit an der NBS auch nur ansatzweise zu beschäftigen. Dies hat sie mit einer Reihe von Journalisten und Autor*innen gemein, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit die NBS in vergleichbarer Weise attackieren und sich dabei vorzugsweise gegenseitig mit ihren Einschätzungen zitieren, aber allesamt niemals dort gewesen sind und nie das Gespräch mit den Verantwortlichen oder auch mit echten Kenner*innen der Szene gesucht haben. Ich selbst habe verschiedentlich versucht, mit einzelnen von ihnen ins Gespräch zu kommen, sei es per Leserbrief oder auf andere Weise. Meistens blieb dies unbeantwortet. In den zwei Fällen, wo ein direktes Gespräch zustande kam, konnte kein einziger konkreter Anhaltspunkt aus der aktuellen Praxis der NBS genannt werden, um die ständigen Pauschalverdächtigungen zu belegen. Man rekurriert dann auf Einordnungen in Berliner Verfassungsschutzberichten aus früheren Jahren, die aber ebenfalls keinerlei konkrete Belege aus der aktuellen Praxis enthalten und inzwischen z.T. gerichtlich kassiert wurden, oder man erinnert an die tatsächlich zwei oder drei Gelegenheiten vor etlichen Jahren, bei denen tatsächlich unbedacht herumreisenden „Starpredigern“ aus der muslimischen Welt die Gelegenheit zu Einzelauftritten gegeben wurde, von denen dann hinterher bewusst wurde, welche problematischen Äußerungen diese an anderer Stelle getan haben. Hiervon hat die NBS sich wiederholt distanziert und klare Konsequenzen hinsichtlich ihrer Einladungspraxis gezogen. Dies allerdings wird von den entsprechenden Autor*innen, so auch hier von Frau Schröter, nicht mit erwähnt, oder es wird pauschal als unglaubhaft hingestellt, ohne den Versuch zu machen zu verstehen, wie es im Einzelfall zu so etwas kommen kann.
Ich finde es hochproblematisch und bedauerlich, dass von einer kirchliche Nachrichtenagentur, wo man doch eigentlich besonders religionssensibel sein sollte, derartige Behauptungen ohne Nachfrage und ohne Einholen von anderen Einschätzungen quasi als Tatsachenfeststellung kolportiert werden. Ebenso finde ich es bedauerlich, dass das Domradio, dem ich schon öfter Interviews geben durfte, dem so prominent Raum gibt. Und um nicht konfessionell missverstanden zu werden: Als vor zwei Jahren der epd sich in vergleichbarer Weise zum Instrument einer Kampagne des Dr. Ourghi aus Freiburg gegen die NBS hat machen lassen, habe ich ebenso engagiert widersprochen. Epd war damals im Nachgang gerichtlich dazu verurteilt worden, die von Herrn Ourghi fälschlich aufgestellte Tatsachenbehauptung, die NBS gelte als salafistisch, öffentlich zurückzunehmen.
Entsprechend unwahr ist die von Ihnen zitierte Behauptung, der Imam der NBS habe „immer wieder salafistische Hassprediger in seine Moschee“ eingeladen. Das Wort „immer wieder“ suggeriert Regelmäßigkeit, Absichtlichkeit und eine große Zahl von Einladungen. Davon kann definitiv nicht die Rede sein, und das wurde selbst von vehementen Kritikern dieser Moschee niemals konkret behauptet.
Der Artikel von Herrn Schmidt spricht im Plural von „Experten“ und von „Autorinnen wie Schröter“ und suggeriert damit, hier handele es sich um eine verbreitete und womöglich weitgehend unbestrittene Experten-Meinung. Dabei stützt er sich de facto ausschließlich auf Äußerungen dieser einen Autorin. Dies lässt mich vermuten, dass er sich in Wirklichkeit von ihr zu seinem Agenturbericht hat veranlassen lassen. Nach meinem Verständnis der spezifischen Aufgaben einer Nachrichtenagentur bleibt er damit weit unter dem Rechercheniveau, das man hier verlangen muss; denn wie ich im Zuge der Verhandlung gegen epd gelernt habe, dürfen Agenturmeldungen ja zitiert werden, ohne sich um weitere Quellen zu bemühen.
Ich bitte sowohl KNA als auch Domradio dringend, die wahrheitswidrigen Behauptungen über die NBS unverzüglich von Ihren Seiten zu entfernen. Von KNA erwarte ich überdies eine ausdrückliche Rücknahme der Behauptungen, weil diese sonst möglicherweise auch von anderen weiterverbreitet werden.
Außerdem möchte ich Sie einladen: Am Sonntag, 27.10.2019 um 10 Uhr werde ich im Rahmen einer Predigtreihe der Berliner Citykirchen unter der Überschrift „Grenzverletzungen“ einen Dialog-Gottesdienst zusammen mit Imam Mohamed Taha Sabri von der NBS in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche halten. Titel: „Was Gott rein gemacht hat, nenne du nicht unrein!“ – Predigtdialog über öffnende Grenzverletzungen zwischen den Religionen. In der Predigtreihe geht es jeweils um Vorgänge, bei denen herkömmliche kulturelle und Milieu-Grenzen bewusst überschritten, Denkverbote durchbrochen, Tabus missachtet wurden, bisweilen unter hohem persönlichem Risiko, um größerer Freiheit willen oder um das gesellschaftliche Miteinander zu verbessern. Ich habe vor dem Hintergrund dessen, was ich oben dargestellt habe, diesen Imam eingeladen. Er und die mit ihm für die Moschee in der Flughafenstraße Verantwortlichen haben in ihrer Dialogoffenheit immer wieder sehr viel Mut bewiesen. Dies soll in diesem Gottesdienst gewürdigt werden. Zugleich soll daran erinnert werden, wie auch in der Geschichte des christlichen Glaubens von Anfang an immer wieder Grenzziehungen im Wege standen – und wie schwer es fallen konnte, darüber hinauszugelangen.
Es wäre schön, wenn Sie dies an Ihre Berliner Redaktion weitergeben und zum Anlass einer dann hoffentlich fairen Berichterstattung machen würden.
Die Pressestelle des Erzbistums setze ich ebenfalls in Kenntnis und werde diesen Widerspruch gegen Ihren Bericht auch anderen potenziell Interessierten zur Kenntnis geben.
Mit freundlichem Gruß,
Martin Germer
(Kaiser-Wilhelm Gedächtnis-Kirchengemeinde)
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Hier die Absätze des Artikels, auf die ich mich insbesondere bezogen habe:
„Eines der DMG-nahen Flaggschiffe ist die “Neuköllner Begegnungsstätte” – für Susanne Schröter, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, ein Paradebeispiel für die Doppelbödigkeit des legalistischen Islamismus. “Der Imam erhielt einen Berliner Dialogpreis, gleichzeitig lud er immer wieder salafistische Hassprediger in seine Moschee ein.”
Darauf angesprochen, habe der Geistliche gesagt, die Leute nicht gekannt zu haben, und “gelogen, dass sich die Balken bogen”. Schon dieses Beispiel zeigt aus Sicht Schröters, dass eine Unterscheidung zwischen Salafisten und den sich oft bieder, gebildet und dialogbereit gebenden Muslimbrüdern sinnlos ist.
Die Wissenschaftlerin sieht nicht das “Traumziel Kalifat” als die eigentliche Gefahr, auch wenn der Chefideologe der Bruderschaft, Yusuf al-Qaradawi, noch 2017 schwadronierte, die Muslime müssten alle einstigen Besitzungen in Europa zurückerobern, von Gibraltar bis Wien. “Es geht darum, dass die Bruderschaft, die überall in Europa NGOs und Vereine gründet, Schritt für Schritt fundamentalistische Normen unter den Muslimen in Deutschland durchsetzen will und damit die Integration gefährdet”, sagte Schröter der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).“”